Erich Fried Tonaufnahme: Jugenderinnerungen des Dichters an die 1. Republik; Zeittafel

180Eines der bemerkenswertesten Zeugnisse des Mutes von Erich Fried legte er im Alter von 6 Jahren ab: „1927 war mein erstes Schuljahr. Mein Lehrer hatte meine Fähigkeit, Gedichte zu deklamieren, desto schneller entdeckt, als ich damit keineswegs hinter dem Berge gehalten hatte. Ich sollte nun zu Weihnachten im Festsaal unserer Schule, einem großen Saal in einem nahen Gemeindehaus, den meine Marktgasse-Schule mit zwei anderen teilte, ein Weihnachtsgedicht aufsagen. Als ich schon auf der Bühne stand, hörte ich unten jemand sagen: „Der Herr Polizeipräsident ist auch unter den Gästen.“

Also trat ich vor, verbeugte mich und sagte in meiner besten Redemanier: „Meine Damen und Herren! Ich kann leider mein Weihnachtsgedicht nicht aufsagen. Ich habe gerade gehört, Herr Polizeipräsident Doktor Schober ist unter den Festgästen. Ich war am Blutigen Freitag in der Inneren Stadt und habe die Bahren mit Toten und Verwundeten gesehen, und ich kann vor Herrn Doktor Schober kein Gedicht aufsagen.“ Nochmals verbeugte ich mich und trat dann zurück. Der Polizeipräsident, den ich erst jetzt sah, sprang auf und verließ sofort, gefolgt von zwei, drei Begleitern, den Saal. Er oder einer aus seinem Gefolge schlug krachend die Türe zu. Ich trat wieder vor und sagte: „Jetzt kann ich mein Weihnachtsgedicht aufsagen.“

Ich deklamierte das, wie ich heute weiß, ohnehin jämmerlich schlechte Gedicht mit all dem Pathos, das man mir beigebracht hatte. Großer Applaus, ich verbeugte mich noch
ehrmals und zog mich dann zurück. Mein Lehrer, Franz Ederer, ein linker Sozialdemokrat, wartete schon auf mich. Er umarmte mich: „Das ist ja großartig, Erich! Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?“ „1938. Umbruch. Eltern verhaftet, Not, abenteuerliche Kampfzeit, Verantwortung. Wird selbständig, Vater stirbt.“ Mit dieser kurzen Notiz fasste Erich Fried seine Erfahrungen in Wien 1938 zusammen.

Erfahrungen, die ihn sein ganzes Leben nicht mehr losließen und zu einem wortgewaltigen Mahner für Freiheit, Toleranz und Demokratie werden ließen. Von seinem Geburtsort Wien Alsergrund vertrieben, konnte er sich nach England retten, wo er dem Zollbeamten auf die Frage, was er hier machen werde antwortete: „Ich werde ein deutscher Dichter“. Im Raum 15 finden Sie eine Tonaufzeichnung Frieds mit Erinnerungen an seine Jugendjahre in der Ersten Republik.